Heinrich Wirth/Zeitzeugnis
1938 - 1945
Als ich meinen Vater während der Schulferien 1943 aus Preußisch-Holland/Ostpreußen in Saalfeld besuchte, ließ er mich nicht mehr nach Ostpreußen zurückfahren, sondern versteckte mich mit Wissen seiner Abteilung und des obersten Leiters, einem Oberst Prof. Dr. Kreuzberg. Mit dem Kunstmaler, einem Obergefreiten Paul Münchhagen, genannt Wüstensohn, schickte er mich zum Malen und Zeichnen in die Natur. Hier entstand 1944 meine Zeichnung "Hoher Schwarm", die ich später zu einem Collagenbild verarbeitete, das heute im Museum der Stadt Saalfeld hängt. Eine Kinderbuch-Illustratorin schenkte mir ein Skizzenbuch mit einer lustigen Mäusekarikatur und der Widmung "Im Weglassen liegt die Kunst". Ein Leitspruch, der meine ganze künstlerische Entwicklung beeinflusste. Durch den Unteroffizier Max Beckmann begann ich mich für's Briefmarken-Sammeln zu interessieren und bekam seine Sammlung 1945 zur Aufbewahrung, als die Abteilung vom OKH den Befehl erhielt alles Material zu vernichten und sich in Zweiergruppen in Richtung amerikanische Front durchzuschlagen. Saalfeld wurde von amerikanischen Truppen besetzt, der Obergefreite Paul Münchhagen hatte sich, wegen einer Freundin in Saalfeld, nicht abgesetzt und sich im Dachbodenverschlag eines Hauses versteckt, wo ich ihn täglich mit Essen und Trinken versorgte. Nach 14 Tagen beschloss er, sich den Amerikanern doch zu stellen. In voller Montur, Stahlhelm auf dem Kopf, Gewehr geschultert und völlig unmilitärisch mit einem großen Zeichenblock unter dem linken und einer Staffelei unter dem rechten Arm ging er, von mir in gebührendem Abstand gefolgt, in Richtung Rathaus zur Kommandatur. Entgegenkommende amerikanische Soldaten und die beiden Posten am Rathaus bekamen bei diesem Anblick den Mund nicht mehr zu. Seitdem Paul den Eingang durchschritt habe ich ihn nie wiedergesehen.
Die Gefangenen, auch mein Vater kamen in das berüchtigte Todeslager Bad Kreuznach. Die erste Handlung nach der Gefangennahme war das Abnehmen von Uhren und Eheringen. Nach Aussage meines Vaters sollen sich farbige Soldaten den Spaß gemacht haben, ihren weißen Kameraden die Eheringe zu stehlen, um sie den deutschen Kriegsgefangenen zurückzugeben. Natürlich bekam niemand seinen richtigen Ring.
Da die Amerikaner mit dem Massen von Kriegsgefangenen überfordert waren, übergaben sie eine große Anzahl den Franzosen, die sie zum Arbeiten in Salzbergwerke steckten, wo die meisten umkamen. Weitere Gefangenen, die ihre Familien in der amerikanischen Besatzungszone hatten, wurden frühzeitig entlassen. Da mein Vater wegen mir, meiner Mutter und Großmutter eine kleine Einzimmerwohnung mit Küche, aber ohne Toilette in Saalfeld zugewiesen bekommen hatte, wurde auch er entlassen. Er war über und über mit eiternden Wunden bedeckt, hatte wegen starker Halsschmerzen einen Schal um den Hals und lag völlig apathisch in einer Ecke des offenen Kohlewagens. Als ein Kamerad, ebenfalls ein Berliner, der auch seine Frau in Saalfeld hatte, sich laut freute nach Hause zu kommen, packten die Thüringer ihn und warfen ihn zwischen die Räder der Wagen. Unteroffizier Max Beckmann schaffte es nach seiner Entlassung bis nach Berlin und in die Straßenbahn nach Weißensee. An der Endhaltestelle musste man ihn tot hinaustragen.
Als mein Vater nach sechs Wochen amerikanischer Gefangenschaft zurückkam, habe ich ihn nicht mehr erkannt. Er war tiefbraun verbrannt und sein Haar war schneeweiß geworden. Am 26.6.1945 wurde mein Vater von der amerikanischen Militärverwaltung Saalfeld als Saalfelder Landmesser als Arbeitsfähig entlassen.
Nach sechs Wochen tauschten die Amerikaner mit den Russen Thüringen gegen einen Teil von Berlin ein. Als die Russen einrückten, waren alle Fenster mit roten Fahnen geschmückt, der weiße Kreis mit dem Hakenkreuz war herausgetrennt worden, aber am Farbunterschied sah man es. Da Berlin innerhalb des sowjetischen Machtbereiches lag, ließen uns die Russen nach Berlin zurückkehren. In Berlin erwartete uns nur noch ein halbes Haus. Eine Luftmine hatte die andere Hälfte mit Treppenhaus weggerissen, ebenfalls unsere Küche und Toilette. Wir kamen in einem Berliner Zimmer mit vier vernagelten Fenstern unter, Lichtleitung und Ofen waren zerschossen. Da die Haushälterin meiner Quartiersfamilie in Preußisch-Holland zu uns nach Saalfeld geflohen war und mit uns nach Berlin mitkam, waren wir nun zu fünft in dem einen Zimmer. Günter wirth 10:18, 5. Okt. 2012 (CEST)